Nicht selten werden Schriftsteller politisch aktiv und zu Meinungsführern. Der Lebenslauf von Rainis (1865-1929) und Aspazija (1865-1943) ist dafür ein glänzendes Beispiel: sie beteiligten sich an der revolutionären Bewegung, setzten sich für soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Geschlechter ein und nahmen nach der Gründung des unabhängigen Lettlands aktiv am öffentlichen Leben teil. Darüber hinaus brachten sie parallel zu ihrem gesellschaftlichen Engagement, ihre politischen, sozialen und ethischen Ideen in der Dichtung zum Ausdruck.
Rainis politische Verpflichtung – die Entwicklung der Idee eines Staates Lettland
„Rainis und Aspazija waren in vielerlei Hinsicht moderne Menschen, mehr noch – ihre Ideen und literarischen Werke leben über Raum und Zeit hinweg und werden wahrscheinlich auch nach hundert Jahren nicht an Relevanz verlieren“, sagte die Kulturministerin der Republik Lettland, Dace Melbārde, während der Konferenz „Aspazijas und Rainis Weg zum lettischen Staat“ am 27.Februar im lettischen Parlament.
Bezugnehmend auf Rainis Worte: „Das Volk kann ohne einen Staat existieren, aber ohne ein Volk ist der Staat undenkbar“, betonte Ministerin Melbārde, dass die Gründung des Staates Lettland 1918 kein Zufall war, sondern eine Notwendigkeit, die bereits in dem Stück „Feuer und Nacht“ (Uguns un nakts) von Rainis im Jahr 1904 erklang, jedoch noch etwas Zeit brauchte, um Wirklichkeit zu werden.
Zunächst überschnitt sich die literarische und politische Bedeutung in Rainis kreativer Arbeit. Ende des 19.Jahrhunderts beteiligte er sich an der Bewegung „Neuer Strom“ (Jaunā strāva), die sich gegen die Herrschaft des russischen Reichs richtete und marxistische und sozialistische Ideen verfolgte. Er schmuggelte Werke von Karl Marx und Friedrich Engels nach Lettland, deren Fragmente danach in der Zeitung „Tageblatt“ (Dienas Lapa) veröffentlicht wurden. Er glaubte, dass die Letten kein kleines Volk, sondern eine starke Nation mit munterem Geist sei, die ein großartiges und erstaunliches Leben neben anderen Völkern leben könne.
1897 wurde Rainis wegen seiner politischen Tätigkeit verhaftet und nach Pskov und Slabodska deportiert, wo er bis 1903 lebte. Zurück in der Heimat, beteiligte er sich an den Geschehnissen des Jahres 1905, hielt Reden auf revolutionären Treffen und forderte zum Kampf für die Freiheit auf. Doch aus Angst vor Repressionen emigrierte er mit seiner Lebensgefährtin Aspazija kurz darauf in die Schweiz, wo er die kommenden 15 Jahre seines Lebens verbrachte.
Im Jahr 1920 kehrten beide Dichter aus dem Exil zurück und beteiligten sich aktiv an der lettischen Politik. Rainis wurde in die verfassungsgebende Versammlung und in die ersten drei Parlamente gewählt und auch Aspazija war Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung. Von Dezember 1926 bis Januar 1928 war Rainis Bildungsminister. Doch in dieser Zeit stellte sich heraus, dass sich die Aufgaben des Dichters und Staatsmannes im demokratischen Staat unterscheiden. Rainis war vom politischen Umfeld in Lettland enttäuscht, das nicht fähig war, seinen hohen Idealen zu folgen und laut Rainis, sich auf niedere Diskussionen und kleinbürgerliche Handelsgeschäfte konzentrierte.
Doch auch in Anbetracht der Schwächen des neuen politischen Systems, war Rainis der Meinung, dass der Parlamentarismus die vollständigste Ausdrucksform der Demokratie sei: „Kein Parlamentarismus zu wollen ist jetzt – keine Demokratie wollen. Und Demokratie nicht zu wollen bedeutet – unter den lettischen Umständen – den Staat Lettland nicht wollen.“
Über seinen Beitrag zur Entstehung Lettlands schrieb er im Jahr 1923 in sein Tagebuch: „Ich habe meine politische Verpflichtung erfüllt: ich habe die Idee eines Staates Lettland entwickelt und selbst in der Politik aktiv mitgearbeitet. Auch die nationale Idee ist zu Ende geführt, muss einen Nationalstaat errichten, erobert ist sie nun. Die nationale Idee muss nun zeigen, was sie dem Volk als Organisationswerkzeug im Auftrag der Menschheit bieten kann.“
In dem Kurzfilmprojekt #mindpower erklärt die ehemalige lettische Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, dass Rainis Gedanken über die Menschenrechte, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit nach wie vor aktuell sind. In seinen Überlegungen hob er die vom Christentum stammende Idee der Vergebung als einer der Grundwerte hervor. Vīķe-Freiberga betont, dass dieser Wert nach dem Zweiten Weltkrieg eine der Grundlagen der Europäischen Union bildete.
Auch Aspazija, die zu ihrer Zeit bekannteste Verfechterin feministischer Ideen hinterließ einen bleibenden Eindruck auf die öffentliche Meinungsbildung in Lettland. In ihren Theaterstücken war die Heldin oft eine Frau, die es wagte sich gegen die Dumpfheit der Gesellschaft aufzulehnen, die Vorurteile jener Zeit zu kritisieren und ihre Rechte zu verteidigen. In ihren Texten und Reden setzte sie sich für das Recht der Frau auf Hochschulbildung ein und betonte, dass die Frau in der Gesellschaft die Rolle einer Priesterin einnehmen müsse – dem Volk die Erleuchtung des Verstands bringen.
Die freie Presse bringt Bildung und Aufklärung
Mit ihrer publizistischen Tätigkeit thematisierten Rainis und Aspazija die Frage der Wort- und Pressefreiheit. Zwischen 1891 und 1895 war Rainis Redakteur der Zeitschrift "Tageblatt". Zu Beginn dieser Tätigkeit betonte Rainis, dass es das Ziel der Zeitschrift sei, nicht nur die Oberschichten, sondern ebenfalls das Volk zu bilden und aufzuklären, um dadurch seine Entwicklung zu fördern und den Menschen eine glücklichere Zukunft zu gewährleisten.
Unter seiner Leitung wurde der Ton der Zeitschrift besonders scharf, vertrat zunehmend sozialdemokratische Ideen und setzte sich für die Abkehr von veralteten Ansichten über die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Anfangs war der Führung des zaristischen Russlands nicht klar, wie oppositionär die Ideen des "Neuen Stroms" und des "Tageblatts" waren. Als jedoch diese Bewegung mehrere Arbeiterstreiks mitverursachte, wandten sich die Staatsbehörden gegen deren Mitglieder, einschließlich Rainis. Nichtsdestotrotz entwickelten sich die Ideen, die der Dichter und dessen Gesinnungsgenossen in der Zeitschrift äußerten weiter. 1905 wurde das "Tageblatt" zu einer der sichtbarsten Bewegungen der Revolution, bis die Zeitschrift per Gerichtsentscheid aufgelöst wurde.
Rainis selbst erklärte später, dass die lettische Presse in den 1890er Jahren von drei Seiten eingeschränkt wurde: seitens der Führung des zaristischen Russlands, seitens des deutschen Adels, der weiterhin über einen großen wirtschaftlichen und politischen Einfluss verfügte und seitens der lettischen Spießbürger. Deshalb konnte er seine Ideen nur auf Umwegen ausdrücken und die ersten legalen Ausgaben der sozialdemokratischen Presse in lettischer Sprache erschienen erst nach der Verfolgungen und Schwächung der Mitglieder des "Neuen Stroms" im Exil in der Schweiz und den USA. Nach Lettlands Unabhängigkeitserklärung rief Rainis die lokale Presse dazu auf, die Begeisterung und die Hingabe, mit der sie während den Zeiten der Zensur gearbeitet hatten, nicht zu verlieren.
Am 3. und 4. Mai fanden in Riga mehrere, dem Welttag der Pressefreiheit gewidmete, Veranstaltungen statt, darunter eine Konferenz, an der Irina Bokova, Generaldirektorin der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) teilnahm. In ihrer Rede betonte sie, dass die Redefreiheit heutzutage umfangreiche Möglichkeiten hat, jedoch zur gleichen Zeit mit vielen Herausforderungen konfrontiert ist, wie der Zensur, einem unzureichenden Pluralismus und, im schlimmsten Fall, der Gewalt.
„Wir benötigen qualitativen Journalismus, damit die Bürger informierte Entscheidungen über die Gesellschaftsentwicklung treffen können und Ungerechtigkeit und bösartiger Machtmissbrauch nicht auftreten können. Freie Medien sind kein Luxus, der warten kann, bis eine nachhaltige Entwicklung stattgefunden hat. Freie Medien sind die Grundlage für den Respekt zwischen den Menschen, eine gute Verwaltung und die Macht des Gesetzes“, erklärte Irina Bokova.
Rainis und Aspazija fürchteten sich nicht davor, Verantwortung zu übernehmen und ihre Ansichten zu äußern. Im Jahr ihres 150.Jubiläums sind sie weiterhin ein Vorbild und eine Quelle der Inspiration für Lettland und die gesamte Europäische Union.